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Nadja Witkowski: außerhalb der Scheuklappen liegt ein ganzes Universum
Zierlich, sportlich, kraftvoll. Die Energie dieser Klassenlehrerin erfüllt den Raum. Nadja Witkowski geht auf den nächsten Schüler zu. Blickkontakt. Die klare, wie freundliche Aufforderung noch im Gehen: „Du bist dran“. Claas steht auf. Seine Wangen sind gerötet, als er sich vor die Klasse stellt. Wenige geräuschlose Sekunden verstreichen, bevor er, tief Luft holend beginnt, das selbstausgewählte Gedicht vorzutragen: “Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland.“ Deutschunterricht der 6a in der KreativitätsGrundschule Friedrichshain.
Claas‘ Mitschüler lauschen ihm und achten streng darauf, wie er sich präsentiert: die Arme hinter dem Rücken verschränkt, das Haar zu einem kleinen Pferdeschwänzchen hochgebunden, etwas verlegen und bemüht, Herr über die eigene Nervosität zu werden. Strophe für Strophe klopft der Schüler Jahrhundert alten Worten den Staub ab: „Und kam ein Mädel, so rief er: „Lütt Dirn, Kumm man röwer, ick hebb ’ne Birn“.
Die literarische Ausdruckskraft Theodor Fontanes kommt dabei auch auf Plattdeutsch zu Tage und wird von Class individuell und kreativ vorgetragen – mal zügig, mal zögernd, mal mit verstellter, krächzender Stimme. Seine Worte berieseln das Gehör der Lauscher, dringen in die gespannte Stille des bunten Klassenraums.
Gelb gestrichene Wände, grüne Gardinen, eine Wand voller Bücher und ein blubberndes Aquarium in der Ecke lassen den Raum freundlich und hell erscheinen, laden zum Lernen ein. Nach wenigen Minuten ist es vorbei. Der Schüler atmet auf, während dem blitzschnell Hände in die Höhe ragen. Eine amüsierte, bestimmte und doch sanfte Stimme durchbricht das wiedereingekehrte Schweigen. Nadja Witkowski braucht nicht viel, um die Aufmerksamkeit erneut auf sich selbst zu lenken – ein Wort, ein Blick eine Geste – die Schülerinnen und Schüler der sechsten Klasse kennen ihre Frau Witkovski. „Super Claas! Das hat wirklich Spaß gemacht!“ Nadja Witkowski, 46 Jahre alt und Klassenlehrerin an der Kreativitätsgrundschule in Friedrichshain ist stolz auf Claas. Später sagt sie, dass er endlich aus sich herausgekommen sei. Damit zeigt Claas das, wozu Nadja Witkowski ihre Schüler Tag um Tag ermutigen möchte: Authentizität, Lebendigkeit und Vielfältigkeit – einen Blick über den Horizont hinaus, kurz: Anders Denken Lernen. Das ist, was die Klassenlehrerin den Kindern selbst vorlebt.
Die Schulglocke beendet die poetische Deutschstunde. Plötzlich ist alles anders als die 45 Minuten zuvor. Laut schnatternd packen die Schülerinnen und Schüler ihre Sieben-Sachen und machen sich auf den Weg zur nächsten Unterrichtsstunde.
Nadja Witkowski liebt ihren Beruf ebenso wie „ihre“ Kinder. Die Anstellung am Kreativitätsschulzentrum Friedrichshain verdankt sie dem Wunsch nach einer beruflichen Neuorientierung und darauffolgender Blindbewerbung. Deutsch und Sport zählen nun zu ihren Kernfächern, „Darstellendes Spiel“ ist ihr Kreativitätsfach – es gehört zu den speziellen Inhalten des pädagogischen Angebotes im Kreativitätsschulzentrum.
Für Nadja Witkowski eröffnet dieses Fach die Möglichkeit, im Schauspielunterricht alte Bühnenwerke auffrischen oder gänzlich neue Stücke erschaffen zu können. Etwas, das ihren Sinn für Schönheit und Kreativität genauso erblühen lässt, wie es ihre Dichter-Lieblinge Goethe, Rilke und Hesse im Sprachunterricht tun. Genannte Poeten bieten ihr und den Schülerinnen und Schülern neben unbegrenzten Interpretation- und Ausdrucksmöglichkeiten ebenso muttersprachliche Feinfühligkeit und gewaltigen Wortspielereien. Dabei achtet Nadja Witkowski besonders darauf, ihre Lehrstunden so lebendig wie möglich zu gestalten. Der vom staatlichen Rahmenlehrplan vorgegebene Unterrichtsstoff soll nicht nur auswendig gelernt werden, sie hält ihre Schüler zudem an, eigene Ideen zu entwickeln und diese kreativ umzusetzen.
„Unter Kreativität verstehe ich Vielfältigkeit, Flexibilität – vor allem im Denken und Ideenentwicklung sowie -verknüpfung“, sagt die 46-jährige Pädagogin. Wichtig fände sie, verschiedene Bereiche miteinander zu verbinden. „Eine Fotografie kann man weiterbearbeiten, auf Platten drucken zum Beispiel oder man kann draußen in der Natur in Ästen Bilder entdecken ebenso in den Wolken und dadurch die Kreativität ins Alltagsleben miteinfließen lassen und Schönheiten wieder wahrnehmen.“, erzählt sie. Dabei sieht sie aus dem Fenster. Ihr Blick huscht langsam über die Schuldächer in die Ferne hinfort.
Als Schönheiten erachtet Nadja Witkowski neben den sprachlichen Elementen auch Details in Form von Bildern. „Ich bin sehr detailverliebt und versuche, das den Kindern mitzugeben.“ Es sei notwendig, die Interessen der Schüler aufzugreifen und Kritik zuzulassen: „In meiner Kindheit war in der Schule nicht Zeit und Raum, um auf die Dinge einzugehen, die mich beschäftigten. Ich finde es wichtig, dass das hier möglich ist, deswegen gebe ich den Kindern Raum und bin nicht sofort genervt, wenn sie mit Kritikpunkten ankommen. Ich höre sie mir an und nehme sie ernst“, so die ehemalige Sozialpädagogin mit einem Herz für verhaltensauffällige Schüler.
Ihr Beruf brachte vielerlei Veränderungen mit sich. Nicht nur, dass sie sich im Laufe ihrer Beschäftigungszeit deutlich mehr mit dem Thema Pädagogik auseinandersetzte und Weiterbildungen besuchte, sie merkte auch, wie die Arbeit mit Kindern ihre Wahrnehmung als Mutter veränderte. Sie begann, zu reflektieren, sich in Frage zu stellen und ihre Rolle sowie ihr Verhalten neu zu überdenken. „Die eigenen Fehler und Macken im Alltagsleben bekommt man durch die Kids gespiegelt und hat so nochmal die Möglichkeit und die Chance, das eigene Verhalten zu ändern.“ Ihre Lebenserfahrungen sensibilisieren sie für die Bedürfnisse der Kinder, für die sie im schulischen Areal die primäre Vertrauensperson ist.
Auf die Frage hin, was die Kinder wohl besonders an ihr mögen, antwortet sie grinsend und nachdenklich: „Wahrscheinlich meine faxige Art. Ich bin ein guter Entertainer und für Späße zu haben.“ Sie möchte, dass die Kinder gerne zur Schule gehen und ein freundschaftliches Verhältnis zu den Lehrern haben. Bei all dem Spaß, der Feixerei, dem Entertainment ist es für Nadja Witkowski wichtig, dass ihre Schüler Regeln einhalten; eine Anforderung, welche die Kinder erfüllen.
Mit ihren kurzen, schwarzen Haaren, den großen, klaren Augen und einem „Mundwerk“, das für ein indigenes Berliner-Gör so typisch ist, strahlt sie dieses bestimmte Feuer aus, das einer Person innewohnt, die die Welt verändern möchte und deren Einfühlsamkeit, der stete Hunger nach Leben und die Überzeugung, dass außerhalb der Scheuklappen ein ganzes Universum liegt, einen Weg in die Herzen der Kinder gefunden haben.